ZAS* ..mit Facettenaugen durch die Stadt: Protokoll

Protokoll und Karte: ZAS*

23.10.21, Schaffhausen

Protokoll

10:00, 23.10.21
47°41’43.1’’N 8°38’02.5’’E

ZAS* trifft am vereinbarten Treffpunkt ein und stellt sich vor. Jeder Schaffhauser:in wird jemand vom
ZAS* zugelost. Streifzüge zu zweit oder zu dritt.

10:25
47°41’43.7″N 8°38’00.74″E

Als die farbigen Autos in den 70er-Jahren noch auf dem Herrenacker parkierten, war klar, dass es ein
homogener und klar fassbarer Platz ist. Die Geschäftigkeit steckt nun unter dem schweren Beton, der
die Wurzeln der Bäume nicht ausstrecken und das Wasser nicht ablaufen lässt. Die vielen bunten
motorisierten Punkte, die die Oberfläche auszeichneten, wurden mit roséfarbenen, segmentierten
Abschnitten ersetzt und haben den Herrenacker in ein zoniertes Stadterlebnis verwandelt. Bald
werden die Bäume umgetopft in grössere, verschiebbare Pflanzentröge mit einer integrierten
Sitzgelegenheit und ausfahrbaren Sonnenschirmen. Die neue Platzgestaltung scheint die Autos
nachzuahmen, ein nostalgischer “Park”-Platz. Ich hoffe, dass die neuen Autos Wurzeln schlagen
dürfen.

10:26
47°41’40.3″N 8°37’55.7″E

Ein altes Haus in der Neustadt, ganz schmal, mit Fachwerken. Die erste eigene Wohnung in der
Altstadt. Aufgewachsen in einer modernistischen Wohnscheibe ausserhalb, ein grosser Kontrast. Die
Wohnung war ganz oben, Küche und Bad in der Mitte, im selben Raum. Rundherum die Zimmer.
Gemüse rüsten in der Badewanne, duschen neben dem Herd. Ein hoher Schacht bis zum Dach
diente zur Lüftung.

?

Eine kleine Öffnung zwischen den schmalen Häusern in der leicht abfallenden Strasse. Mit Vorsicht
betreten wir den engen Durchgang, überwinden die Schwelle von der Strasse in eine Zwischenzone.
Wir finden uns wieder in einem kleinen, kompakten Raum, umschlossen von Häusern aus
unterschiedlicher Zeit – ein Hof in der Neustadt. Viele unterschiedliche Eingänge stehen hier zur
Auswahl, alle erreichbar von diesem kleinen Raum aus. Die Klingelschilder sind lang, der Ort ist
Zugang für das Zuhause von Vielen. Aus den oberen Geschossen hört man Gespräche, es wird
einem zugewunken. Im Sommer beim Stadtfest wurde hier gefeiert, zusammen im Hof war der Ort
hier doch plötzlich öffentlich. Die kleine Lampe am Schuppen erinnert einen daran, sie ist
angeschlossen an die Regelungstechnik der Strassenbeleuchtung von Schaffhausen. Eine öffentliche
Zimmerlampe im Eingangsbereich der Nachbarschaft.

10:30
47°41’42.4″N 8°37’53.9″E

Eine steinerne Treppe mit gusseisernem Geländer führt auf die Brücke, über die man zurück ins
Innere der Altstadt gelangt. Zeiten sind aufeinander geschichtet. Auf der anderen Seite das Gleisfeld.
Wir sind umgeben vom beständigen Rauschen der Autos, durchzogen vom leisen Plätschern des
Wassers – ebenso beständig. Wie der Brunnen wohl hierhin gekommen sein mag? Er steht in einer
Nische aus Kalkstein, darüber eine Einstülpung. Zufällig erscheint diese Konstellation nicht. Der
Brunnen ist aus Stein, gross wie ein Trog und mit Voluten geschmückt. Die Stirnseite ist leer, als hätte
man keine Zeit mehr gehabt, sich zu verewigen. Die Jahreszahl fehlt und somit auch jegliche Spur
wann, wieso und wofür eigentlich er hier seinen Platz gefunden hat. Auf der anderen Seite der
Autoschlucht tauchen weitere Kalksteinfragmente auf. Vielleicht hingen die Stücke mal zusammen.
Vielleicht war der Brunnen für die Pferde, als man auf dem Weg anhielt um eine Pause zu machen.
Vielleicht war er auch das Ende eines barocken Gartens, Ziel der Spaziergänge der Herrschaften des
gegenüberliegenden Hauses. Drei Zacken aus Beton markieren, dass das Trottoir hier endet.

10:33
47°41’44.0″N 8°38’11.2″E

Ein Ort, der vieles sein will (sein soll?) und wenig ist: Spiel-Strasse, Verkehrs-Strasse, Kirch-Platz,
Park-Platz? Die Frage der Determination steht im Raum – sollte ein Ort klar definiert sein oder können
sich die Dinge überlagern und bereichern? Anscheinend verläuft auch durch diesen Ort die Frontlinie
der Stadt auf der sich Autofahrer:innen und Fussgänger:innen, Pendler:innen und Anwohner:innen,
Wohnende und Verkaufende, begegnen – oder eben auch nicht begegnen. Der Ort zeigt, dass Stadt
ein Kompromiss ist, den es immer wieder auszuhandeln gilt, denn die Stadt lebt nicht trotz sondern
gerade wegen der Vielschichtigkeit ihrer Meinungen und Bedürfnisse. Und vielleicht braucht es am
Ende gar nicht viel um die Waage des Kompromiss an diesem Ort wieder ins Lot zu bringen: Ein paar
mehr Bänke statt Autos damit der Park-Platz auch zum Kirch-Platz wird, ein sichtbares Schild damit
die Verkehrs-Strasse auch zur Spiel-Strasse wird und ein wenig Courage der Fussgänger:innen sich
diesen Platz auch anzueignen.

10:40
47°41’48.2″N 8°38’09.6″E

Zum ersten Mal stehen wir mitten auf dem Kirchhofplatz. Wir haben einen freigewordenen Parkplatz
eingenommen und besetzt. Die Autos, die Bäume, die Menschen und Tiere kuscheln sich aneinander.
Die Dichte ist behaglicher als wir es uns vorgestellt haben. Die Autos müssen nicht alle abgeschleppt
werden und verschwinden, es müssen auch mehr Menschen, Tiere, Fahrräder, Pflanzen und
Sitzbänke angeschleppt werden.

?
47°41’48.6″N 8°38’09.5″E

Am Kirchhofplatz, dem letzten zentralen Parking in der Altstadt. Wartende Autos umstellen das
Familienzentrum. Vereinzelte Bäume durchbrechen den Asphalt. Wir stellen uns vor, die
Parkierungsschlaufen in den Gassen aufzulösen. Die für den Verkehrsfluss unnötigen Ecken
abzuschneiden. Den bestehenden „Füssen“ am Platz Raum zu schaffen, um sich auszubreiten –
immer weiter, bis sich alles auf dem Platz vermischt. Eine kontinuierliche Veränderung – kein abrupter
Wechsel. Wir werden uns nicht mehr erinnern, wies dazu gekommen ist.

10:43
47°41’43.3″N 8°38’06.5”E

Ein kleiner Platz, leicht erhöht, darunter die öffentlichen Toiletten. Ein grosser Baum in der Mitte, doch
der Untergrund bereitet ihm Mühe, er hat zu wenig Platz, um zu wachsen. Autos drängen von allen
Seiten auf den Platz um hier zu parkieren, trotzdem ist es schön. Ein Ort für die Mittagspause, mit
Blick auf das Kloster.

10:51
47°41’49.5’’N 8°38’02.1’’E

Ein schmales Tor, ein unscheinbarer Durchgang. Doch nur ein Durchgang für die, die ihn kennen. Und
für die, die ihn kennen, ists eine Abkürzung zwischen den Gassen, und manchmal, wenns mal nass
ist, sogar ein überdachter Weg und Unterstand. In der Nacht seis zu. Doch drin ists schön.
Irgendwann einmal gabs da ein hübsches Geschäft, mit einer geschnitzten Holzfassade und
Oberlicht, sicherlich aus dem vorletzten Jahrhundert. Doch das Geschäft ist heute kein Geschäft
mehr. Muss lange her sein, denn heute sind die Fenster verklebt. Ein paar Anzeigen noch in den
Schaufenstern. Vorbei gehts am Eingang zum Stadtarchiv, und bevors auf der anderen Seite wieder
rausgeht, scheint die Sonne durch das bunte Glasfenster, das über dem Tor zur Krummgasse
angebracht ist. Link ein rundes Relief, das einen kleinen Menschen zeigt. Und nun wieder raus in die
Gassen.

11:00
47°41’40.8″N 8°38’03.6″E

Ein Hinterhof, zuerst Parkplatz, dann Schulhof und schliesslich ein versteckter Garten. Wild
bewachsen und unbekannt. Ein öffentlicher Raum? Nein, wohl doch privat. Eine Oase hinter den
Mauern. Eine der Mauern ist mit Stacheldraht gekrönt, der Nachbar das Gefängnis.

11:00
47°41’43.1’’N 8°38’02.5’’E

Wir versammeln uns wieder. Orangensaft. Anschliessend gemeinsamer Rundgang in der ganzen
Gruppe.

12:30
47°41’43.1’’N 8°38’02.5’’E

Die Rundumsicht löst sich auf.

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doch die autos drängen auch hierhin
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trotzdem ist es schön
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verdichtung
verkehr stoppen
von innen nach aussen
was tun mit den dächern?
welt durch andere augen sehen
wer hat den “fuss” am platz?
wer mit wem?
zentrum-provinz
ZH-SH
zwischen den autos
zwischendrin

ZAS*

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene
Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss
voraus ging eine geteilt Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich und anderswo.
Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere
Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur
Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen zu markieren, werden transformative
Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden
Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: info@zas.life

(Ankündigung)

Wie können wir gemeinsam die Stadt betrachten? Aufgefordert zu einer Aussensicht behaupten wir,
dass es kein Aussen mehr gibt. Eine scharfe Aussensicht halten wir für ebenso unmöglich wie eine
scharfe Innensicht. Wir suchen den unscharfen Blick. Dazu gehen wir mit Facettenaugen durch die
Stadt: Zuerst als Einzelaugen in verschiedene Richtungen und dann versammelt denselben Punkten
entlang. Gemeinsam setzen wir die Bildpunkte zu einer Schaffhauser Rundumsicht zusammen. Wo
befinden wir uns eigentlich? Zur späteren Orientierung möchten wir etwas zurücklassen: ein Protokoll
mit Zeitangaben. Das Protokoll soll dazu befragt werden können, welchem Wandel der öffentliche
Raum Schaffhausens unterliegt. Wir stellen die Grösse unserer Gruppe zur Verfügung und zählen auf
zahlreiches Erscheinen.

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