„Öffentlicher Raum“ Wahrnehmung und Identifikation

SCHARF-Workshop vom 4. November 2018 – ein Rückblick.

Martina Guhl, Dipl. Arch. ETH / MSc Psychologie, Zürich1
Als Teilnehmer des Workshops interessierte mich primär, wie ich meine Wahrnehmung im öffentlichen Raum bei meinem zukünftigen ‚Unterwegssein’ in Städten noch weiter sensibilisieren könnte. Die zahlreich erschienenen Vorstandsmitglieder, Scharf-Mitglieder, Fachpersonen und eine breite Schar an der Thematik grundsätzlich Interessierter erhofften sich aber sicher auch eine Art ‚Spick’ für die Erkennung räumlicher Qualitäten im Stadtraum. Im Alltag werden wir ja sehr oft mit Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit Architektur und Städtebaulicher Qualität konfrontiert, die den wenigsten Lesern von Zeitungsartikeln wirklich geläufig sind.
Theorie:
Hier setzte der Workshop von Martina Guhl an. In einem ersten, theoretischen Teil thematisierte Martina Guhl die ‚Urbanen Transformationsprozesse’ und die Möglichkeiten einer subjektiven Teilnahme durch die im öffentlichen Raum oft unterschiedlichsten Beteiligten.
 
(Anbei veröffentliche ich meine pers. Notizen zur Beamerpräsentation von Martina Guhl)
Durch das persönlich wirklich ‚vor Ort sein’ sowie auch durch eine individuelle Aneignung, treten wir mit einer räumlichen Situation in einen Wahrnehmungsprozess. Dabei spielen meine Raum-bezogenen Bedürfnisse ebenso eine Rolle, wie meine psychologische Voraussetzung, die ich auf den existierenden Raum anwenden kann, oder eben auch nicht. Ob subjektiver Leibraum, Richtungsraum, Stimmungsraum, Personaler Raum oder der Lebensraum zusammen mit anderen Nutzern, sie alle bieten mir unterschiedliche Zugänge, die Qualitäten von Raum zu erkennen, wenn ich mich durch die Stadt bewege oder mich an einem Ort aufhalte. Wahrnehmen stellt die Kommunikation mit den Dingen um mich dar, indem ich den Dingen Sinn und Bedeutung gebe. Daher ist Wahrnehmen ein aktives, gestaltbildendes und sinnstiftendes Instrument. Aneignung geschieht dann, wenn die Umwelt (der Ort) zu meiner mir persönlichen bedeutsamen Welt umgewandelt, und wenn der Vorgang mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen gefüllt werden kann. Aneignung bildet Ortsidentität. Um emotionale Bindung zu entfalten, braucht es die Möglichkeit der subjektiven Aneignung der Nutzer und ihre Gestaltungsmöglichkeiten. Durch die Einmischung menschbezogener Gestaltung wird ein öffentlicher Raum zum Ort mit Identität. Deshalb ist die Aufenthaltsqualität höher, je mehr wir uns mit dem Ort identifizieren können.
Qualität entsteht überall dort, wo Bedürfnisse, die dynamisch und multifunktional sind, respektiert werden und Spielraum besteht, sie zu leben!
 
Selbstexploration:
Im zweiten Teil suchten wir in jeweils zu zweit die Selbstexploration auf dem Stadtrundgang innerhalb des auf dem Plan gezeigten Perimeters des Schaffhauser Klostergevierts.
Jede Gruppe erfasste ihre Wahrnehmungen auf einem spezifisch fokussierten Handout, das eine Analyse an Hand ihrer Umgebungsvariablen ermöglichen soll.
Die spezifisch zu analysierenden Themen waren:
Nischen (Auftanken, Rückzug)
Blick/Orientierung (Nahsicht, Fernsicht, Übersicht)
Menschliches Mass (Proportionalität)
Sinnliche Erlebnisqualität (Geräusch, Geruch, Licht/Schatten, Material)
 
Einige Teilnehmer haben sich freundlicherweise bereit erklärt, uns ihre Analyse des Stadtspaziergangs zu Verfügung zu stellen.
Die Teilnehmer diskutierten unterwegs und präsentierten ihre Erkenntnisse aus ihren spezifischen Wahrnehmungen im abschliessenden Plenum auf dem Plan des thematisierten Stadtquartiers mit verschiedenfarbigen Punkten. Durch diese Auswertung sind die Orte im Quartier mit höherem ‚Anregungsgehalt’ als Summe zwischen ‚Erregung’ und ‚nicht Erregung’ und ‚Gefallen’ und ‚Nichtgefallen’ in dicht überklebten Stellen sichtbar aufgezeigt.
Das Fazit zeigt, dass wenn man sich für ein Stadtgebiet zwei Stunden Zeit nimmt, um in einer kleineren Gruppe, am Ort interessierter Personen auf sorgfältige und Ich-bezogenen Fragestellungen fokussiert, subjektive Wahrnehmungen erfasst, man den wirklich vorhandenen Qualitäten eines urbanen Ortes präzise nahe kommt. Deshalb wären diese Methoden zur Identifikation von Stadtraum hinsichtlich anstehender Transformationsprozesse ein taugliches Instrument… sie sind aber durchaus auch für die eigene alltägliche Anwendung zu empfehlen.
Christian Wäckerlin, Präsident SCHARF2345
678910
Download:
A_Nischen
B_Orientierung
C_Geräusche und Klänge
D_Geruch
k_Plan Perimeter
Artikel SN: Die Stadt ist ein Erlebnisraum
Bücherhinweise: -> Der Raum der Stadt Raumtheorien zwischen Architektur, Soziologie, Kunst und Philosophie in Japan und im Westen. Jürgen Krusche, 2008 Herausgegeben vom Japanische-Deutschen Institut in Berlin, Jonas Verlag
-> Strassenräume – Berlin, Shanghai, Tokyo, Zürich Eine foto-ethnologische Untersuchung, 2011 Jürgen Krusche, Professur Günther Vogt, Dep. Architektur ETH Zürich Lars Müller Publishers
-> Tokyo. Die Strasse als gelebter Raum Jürgen Krusche, 2011 Lehrstuhl Günther Vogt, Dep. Architektur ETH Zürich Lars Müller Publisher
-> Das Denken des Leibes und der architektonische Raum Wolfgan Meisenheimer, 2004 Verlag Walther König
-> Städte für Menschen Jan Gehl, Brigitte Svarre, 2015 Jovis Verlag
-> Leben in Städten – Wie man öffentlichen Raum untersucht Jan Gehl, Brigitte Svarre, 2016 Birkhäuser